GESAMTKUNSTWERK

CŒUR À CŒUR – Chapter III –

In seiner Kolumne CŒUR À CŒUR  stellt Guido Brancher von  GUID-O-BERLIN* Orte und Happenings vor – versucht sie zu verstehen und sie in einen historischen und zeitkritischen Kontext zu setzen. Bezüglich der Thematik geben wir ihm Carte Blanche weil wir seinen Eklektischen Geschmack und seine weit verzweigten Referenzen mögen. 

Und weil Berlin erst so richtig schön ist, wenn man es auch regelmäßig verlässt, werden einige Berichte auch von seinen Reisen kommen. 

Kommt mit und lasst euch treiben. The journey starts here!

Innenansicht des Barcelona Pavillon von Mies van der Rohe mit Georg Kolbes Frauenfigur "Der Morgen" (1929) -Quelle: Enric Duch/Bildarchiv Georg Kolbe Museum
Innenansicht des Barcelona Pavillon von Mies van der Rohe mit Georg Kolbes Frauenfigur „Der Morgen“ (1929) -Quelle: Enric Duch/Bildarchiv Georg Kolbe Museum

Gesamtkunstwerk

Als ich an meinem Artikel über Arkadia schrieb, fiel es mir schwer, eine passende Übersetzung für das deutsche Wort „Gesamtkunstwerk“ zu finden. Ein Begriff, den ich gerne verwende, um die überwältigende Kraft zu beschreiben, die ein Kunstwerk entfalten kann, wenn verschiedene Medien eingesetzt werden, um eine universelle und umfassende Botschaft oder Emotion zu vermitteln.

Es scheint ein Wort zu sein, das der deutschen Sprache eigen ist, der Begriff ist dennoch universell.

Grund genug, Euch auf eine Reise durch die faszinierende Welt der Gesamtkunstwerke einzuladen.

Giovanni Lorenzo Bernini, Die Verzückung Santa Teresas, Santa Maria Della Victoria, Rom, 1645-1652

Einmal Barock bitte!

Meine erste Begegnung mit einem Gesamtkunstwerk war während meines Kunstgeschichtsstudiums.

Das Barock war das Thema, Berninis Verzückung der Santa Teresa war das Werk und der Titel ist Programm!

Das Altarbild in einer römischen Kirche präsentiert sich wie ein Bühnenbild. Teresa empfängt die Liebe Gottes über den brennenden Pfeil eines Engels… immer und immer wieder.

Ihr Körper und ihr Gesicht drücken im Einklang aus … nun ja, sagen wir mal, die Lady geht richtig ab!

Aber der Clou der ganzen Sache, und der macht es erst richtig zum Gesamtkunstwerk, ist ein verstecktes Fenster, das Teresas Gesicht und Unterleib erleuchtet, also da wo die Action ist.

Es ist absolut magisch in all seiner barocken Pracht und hat mir gezeigt, welch immense Kraft Kunst entfalten kann.

Giovanni Lorenzo Bernini, Die Verzückung Santa Teresas, Santa Maria Della Victoria, Rom, 1645-1652

Deutsche Romantiker

Der Begriff Gesamtkunstwerk an sich wurde von den deutschen Romantikern geprägt. Insbesondere Richard Wagner begriff seinen Opern als Gesamtkunstwerke, das Drama, die Musik, das Bühnenbild

sogar das Theatergebäude in Bayreuth selbst –

dienten vereint dazu, seine Kunst zu sublimieren und drückten den Wunsch des Menschen aus, gottgleich zu werden.

Meine persönliche Begegnung mit dieser Art von Göttlichkeit geschah, als ich das große Privileg hatte, einer Premiere von Tristan und Isolde in einer Produktion von Peter Sellars mit den Videos von Bill Viola in der Opera Bastille beizuwohnen …

Ich hab fünfeinhalb Stunden geheult.

Der Wagnersche Mehrklang, die Modernität, die Reinheit, die Lawine von Emotionen, die Violas Slow-Mo-Videos rüberbrachten, war etwas, an das ich mich gerne bei meinem letzten Atemzug erinnern werde.

Melanie Diener als Isolde und Ben Heppner als Tristan in der Produktion von Tristan und Isolde der Canadian Opera Company, 2013. Dirigent Johannes Debus, Regisseur Peter Sellars, bildender Künstler Bill Viola, Kostümdesigner Martin Pakledinaz und Lichtdesigner James F. Ingalls. Foto: Michael Cooper Fotografie

Melanie Diener als Isolde und Ben Heppner als Tristan in der Produktion von Tristan und Isolde der Canadian Opera Company, 2013. Dirigent Johannes Debus, Regisseur Peter Sellars, bildender Künstler Bill Viola, Kostümdesigner Martin Pakledinaz und Lichtdesigner James F. Ingalls. Foto: Michael Cooper Fotografie

Wiener Sezession & Jugendstil

Um 1900 wich Wagners romantisierender Historismus der Moderne über die Wiener Sezession und den Jugendstil.

Inzwischen hatte die industrielle Revolution die Konsumgesellschaft geschaffen und Künstler und Architekten entdeckten Design. Allein in Wien war Koloman Moser als Maler, Grafiker und Möbeldesigner gleichermaßen erfolgreich, Gustav Klimt pushte die von seiner Mätresse, Emilie Flöge, entworfene Mode in seinen Gemälden und Fresken, Otto Wagner und Hector Guimard (in Paris) feierten die Geschwindigkeit des öffentlichen Verkehrs durch die Bauten von Bahnhöfen, die wie Kathedralen aussahen.

À propos Kathedralen, vergessen wir nicht Antoni Gaudis Sagrada Familia, vielleicht das letzte Gesamtkunstwerk, das heute noch im Bau ist. Die Architektur dieser Kirche, ihre Skulpturen und Faincen, ihre Buntglasfenster feiern die wundersame Einheit von Mensch und Gott.

Bleiben wir in Barcelona und besuchen wir ein bahnbrechendes Werk der Bauhaus-Architektur: den Barcelona-Pavillon von Mies van der Rohe, den deutschen Beitrag zur Weltausstellung 1929.

Hier weicht das Sakrale der Verherrlichung der industrialisierten Natur.

Die elegante Verwendung von in Stahl gerahmtem Stein, der legendäre Barcelona Sessel und Georg Kolbes Skulptur Der Morgen im Spiegelbecken machen diesen Ort zu einem Tempel, in dem ich bei jedem Besuch der Stadt den Göttern des guten Geschmacks huldige.

Innenansicht des Barcelona Pavillon von Mies van der Rohe mit Georg Kolbes Frauenfigur "Der Morgen" (1929) -Quelle: Enric Duch/Bildarchiv Georg Kolbe Museum
Innenansicht des Barcelona Pavillon von Mies van der Rohe mit Georg Kolbes Frauenfigur „Der Morgen“ (1929) -Quelle: Enric Duch/Bildarchiv Georg Kolbe Museum

Das Bauhaus

Das Bauhaus, das zu seiner Blütezeit von Mies geleitet wurde, reihte sich komplett in das Ideal des Gesamtkunstwerks ein. Meiner Meinung nach ist dies auch ein grundlegender Punkt, warum diese Bewegung nur in Deutschland entstehen konnte.

Das Bauhaus wurde als universelle Materialisierung der modernen Gesellschaft konzipiert.

Nach seinen Lehren musste ein „modernes“ Projekt die Landschaftsgestaltung, das Möbeldesign und sogar die Farbpalette umfassen. Alles trug zur Ergonomie und Effizienz der Wohn- und Arbeitsräume bei. In späteren Jahren traten Skulptur und Fresko in den Hintergrund und wurden für diese Wohnmaschinen als überflüssig angesehen. 100 Jahre später ist das modernistische Prinzip von Form follows Function immer noch Leitkultur.

Leider scheint unser Streben nach Effizienz den Begriff des Gesamtkunstwerks inzwischen zunichte gemacht zu haben. Das Ausschalten des Mittelsmanns hindert uns daran, die Zusammenarbeit verschiedener Künstler für ein größeres, universelleres Projekt zu suchen und uns so Gott zu nähern.

Das macht unsere Moderne so kalt und unmenschlich.

GESAMTKUNSTWERK 2

Haben wir unsere Verbindung zu Gott verloren und Ihn dem Profit geopfert?

Haben wir das Streben verloren, göttlich zu werden?

Oder um die Worte von Nietzsche zu verwenden: Haben wir Gott insgesamt getötet?

Einige Kunsthistoriker behaupten, daß in Performancekunst, Happenings, Installationen und digitaler Kunst die Idee des Gesamtkunstwerks weiterlebt.

Ich würde sie eher als immersive Kunst bezeichnen, da sie zu oft der Vorstellung eines einzelnen Künstlers entstammt und mir daher die Offenheit fehlt, die nur die Zusammenarbeit mit anderen Künstlern für eine universellere Wirkung ermöglicht.

Stellt Euch doch nur mal vor, einer der heutigen Star Achitekten würde ein Gebäude vorschlagen, das ein Skulpturen Programm und, Gott bewahre, ein Fresko enthielt!

Die Kritiker wären sofort auf den Barrikaden und den Entwurf als überdesignt, reaktionär und kitschig verhöhnen mit dem Vermerk, man würde ja hier keine Pizzeria bauen!

Giovanni Lorenzo Bernini, Details, Die Verzückung Santa Teresas, Santa Maria Della Victoria, Rom, 1645-1652

Eigentlich schade drum, denn diesen Ein-Mann-Shows fehlt die Intensität und Menschlichkeit, die nur durch vereinte Anstrengungen erreicht werden können.

Ein bisschen mehr Demut und etwas Spiritualität würde uns gut tun, um das was von dieser Welt noch übrig ist, in ein großes Gesamtkunstwerk zu verwandeln, das wir alle gemeinsam erschaffen können!

Sowas wie Burning Man (Hey!) aber halt weniger druff und dafür inklusiver und nachhaltiger!

Das wär doch mal ein Ausweg aus dem postmodernen Brei, in dem wir schon viel zu lange rühren?

Ein weiterer Traum für die To-Do-Liste, wenn der Lockdown vorbei ist!

A special thank you goes to Michael Cooper and the Canadian Opera Company.

Michael Cooper’s dramatic flair and ability to capture moods in his commercial work comes from his involvement with the performing arts community. Michael has photographed all of the Canadian Opera Company’s productions for 37 years. 

Follow him on Instagram or check out his work on his website!

*GUID-O-BERLIN kreiert Erinnerungen. Wir bieten exclusive personalisierte Touren und Begegnungen in und um Berlin an und helfen Ihnen gerne dabei auch andere europäische Metropolen außerhalb der Touristenpfade zu erkunden. 

Header photo vom Berliner Fotografen Mark thisismywork.online aus der Serie The Nymph de Berlin by Valentin Schmehl (valentinschmehl.eu)